Ein sexuelles Trauma bei Kindern: Mein Fürsorge-ABC

Mit diesen 25 Hilfen stärker durch die schwierige Situation

Ein sexuelles Trauma bei Kindern: Es ist manchmal zum Haare raufen und als könntest du alles nur falsch machen. Du kennst dich selbst nicht in dieser schwierigen Situation, du kennst dein Kind nicht. Du weißt nicht weiter. Und vielleicht fühlst du dich unsicher, oder du ärgerst dich über den Verwaltungsapparat, über die Kälte, die dir begegnet. Darüber, dass Straftaten nicht bestraft werden. Dass Kinder gerade jetzt besonders viel Leid ertragen müssen. Dass scheinbar nichts voran geht … 

Die Erfahrung von Fachleuten kann dir helfen, wenn ein Kind ein sexuelles Trauma hat

Hilfestellungen im Alltag: 

1. Es ist normal, wenn ein Kind bei einem sexuellen Trauma massive Auffälligkeiten zeigt. Viele Kinder leiden unter den seelischen Folgen. Sie haben Ängste, Schreianfälle und Albträume. Sie sind freudlos oder aggressiv, fallen in Babyverhalten oder Babysprache, reagieren körperlich oder mit Ekel: sie würgen, krampfen oder krümmen sich … Setze auf Weitblick. Jetzt ist es schwierig – später wird es anders sein. Langsam und stetig ist wirkungsvoll. Wenn es geht, nimm Zeitdruck raus.

2. Kinder und Jugendliche können darunter leiden, dass ihr Körper sich erinnert. Sie haben dann Kopf- und Gliederschmerzen, Bauchweh, Fieber, Schüttelfrost und auch Lähmungen. Oft ist keine Ursache festzustellen – medizinisch. Dennoch braucht ein Kind, das ein sexuelles Trauma erlebt, jetzt liebevolle Pflege – so ähnlich wie nach einer Operation oder nach einem Unfall.

3. Es kann sein, dass ein Kind zwischen symptomreichen und symptomfreien Zeiten wechselt. Oder es wirkt zu Hause sehr belastet, in der Schule oder im Kindergarten aber ganz normal – oder umgekehrt. Behalte im Blick, wann und wo genau das Kind auffällt. Das brauchst du für den Austausch mit anderen Menschen. 

4. Möchtest du jemanden einweihen oder lieber nicht? Mit wem kannst du dich zusammenschließen? Wen möchtest du mit einbeziehen – in eine heilsame Gemeinschaft?

5. Falls ein verletztes Kind auffallend unruhig oder traurig ist, achte darauf, was davor geschehen ist. Notiere alles, was dir auffällt, wenn die Stimmung so stark schwankt. Auch bei Wutausbrüchen. Auch beim stillen Rückzug in sich selbst.

6. Reagiere liebevoll und sachlich, wenn ein Kind Einzelheiten darüber erzählt, was es erlebt hat. Zum Beispiel: „Das hat weh getan, … war wirklich doof für dich. Ich bin jetzt bei dir.“

7. Das volle Gewicht wird oft erst später deutlich, nach Wochen oder Monaten. Man kann sich darüber sehr wundern. Und dennoch gehören die „Absacker“, die Pausen, die Aufs und Abs wie Schonzeiten dazu. 

8. Körperliche Reaktionen und Gefühlsschwankungen kannst du sachlich kommentieren. Zum Beispiel: „Vielleicht schüttelt es dich, weil du wieder daran denkst. Es ist jetzt vorbei.“

9. Sexuell traumatisierte Kinder verlieren sich immer mal wieder in schmerzhaften Erinnerungen. Sie wirken abwesend, schauen „durch einen durch“ oder mit einem Tunnelblick vor sich hin. Unterbrich sanft diese Zustände. Ist ein Kind nicht mehr erreichbar, obwohl du es ansprichst, hilft manchmal Singen, eine leichte Berührung, ein Spiel, das ablenkt – oder Bewegung. 

10. Akzeptiere es, wenn ein verletztes Kind bestimmte Situationen erstmal vermeidet. Und dann helfst du ihm ihm, diesen Selbstschutz schrittweise wieder aufzugeben – behutsam und seiner eigenen Zeit angemessen.

11. Ein ganz normaler Alltag tut gut. Setze weiterhin altersentsprechende Grenzen. Klare Regeln geben Halt.

12. Auch ein verletztes Kind wünscht sich einen normalen Alltag. Es möchte keine mitleidigen Blicke. Und es braucht keine Zuweisung in die Rolle als Opfer. Es tut ihm so gut wie uns allen, wenn es herzhaft lachen kann.

13. Wir alle wünschen uns Sicherheit. Gewohnheiten spenden Sicherheit, weil sie uns vertraut sind. Gib Kindern und Jugendlichen Orientierung. Mit einer beständigen Tagesstruktur und mit Regeln. „Wir halten Verabredungen ein.“ „Zusammen gehen wir freundlich und ehrlich miteinander um.“ „Wir bleiben bei Aussagen, die wir getroffen haben.“

14. Sprich ein Kind niemals abends vor dem Einschlafen auf etwas Schlimmes an. Lass die Ängste und Sorgen für den Moment beiseite. Denke an die schönen Erlebnisse des Tages zurück. 

15. Male dir aktiv eine glückliche und gesunde Zukunft aus. Wenn du möchtest, kannst du noch einen Schritt weiter gehen und jeden Abend eine Extra-Zeit einrichten. 

16. Richte eine Schlafroutine mit festen Zeiten ein. Du kannst zum Beispiel schöne Musik hören oder eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen. Lass ein angenehmes Nachtlicht brennen, wenn dein Kind das mag.

17. Es hilft einem Kind, wenn du unterscheidest: mein Kind war Opfer von Gewalt, aber das ist es nicht mehr. 

18. Die erlebte Hilflosigkeit ruft immer wieder neurotische Dramen auf. Diese Dynamik ist zwar unlogisch und eher unbewusst, aber sie funktioniert so ähnlich wie ansteckende Krankheiten. Plötzlich konkurrieren die Erwachsenen miteinander um Aufmerksamkeit. Auf einmal stehen Fragen im Raum wie: „Bin ich gut genug?“ „Wer ist die bessere Mutter?“ oder: „Wer hat Recht? Wer kann besser helfen?“ Diese Fragen und die Gefühle, mit denen du dann angesteckt bist, wie vielleicht Angst, Verachtung oder Feindseligkeit, helfen wirklich keinem. Vor allem: Es geht nicht mehr um’s Kind und darum, wie es aus der Not heraus kommt. Finde Wege aus dieser Falle. Dazu gehört die Kategorie „Opfer“. Die Opferrolle ruft immer wieder neurotische Dramen auf. Und dann konkurrieren Helfer, Opfer und Täter plötzlich miteinander. Das ist dysfunktionell – es hat keine gute Funktion, sondern eine schlechte. 

19. Es liegt nah, dass Menschen vergleichen. Es hilft aber nicht aus der Misere. Mit einer Hierarchie des Leidens ist niemandem geholfen.

20. Vermeide häufige Problemgespräche, mit denen du dich gemeinsam im Kreis drehen. Es unterstützt weder dich noch dein Kind, wenn sich alles nur noch um ein sexuelles Trauma dreht.

21. Wenn die Übergriffe in einer Organisation stattgefunden haben, dann prüfe, ob die Fachkräfte dort den Schutz ab jetzt sicherstellen können. Ein Check lohnt sich, ob sie bereit sind, mit einer Fachstelle zusammenzuarbeiten.

22. Tausche dich mit Menschen deines Vertrauens aus. Einfach nur, weil dieser Weg, mit diesem Thema, zusammen mit anderen leichter ist.

23. Eine Trauma-Fachberaterin oder ein Trauma-Fachberater kann dir Möglichkeiten aufzeigen, wie du Fantasien über den Ablauf der Tat oder belastende Erinnerungen stoppst.

24. Falls du an eine Strafanzeige denkst: Geh nur dann vor Gericht, wenn du einen sicheren Rückhalt hast – in der Familie, bei Freunden, bei einem Anwalt, in einer Therapie oder mit Beratung. Darum empfehle ich dir, zuerst bei einer Fachstelle nach Hilfe zu fragen. Die Informationen und die Beratung sind kostenlos. Die Strafanzeige sollte gut vorbereitet sein. So kann der Missbraucher leichter überführt werden. Ein wichtiges Ziel wäre dann, Beweise zu sammeln, damit er sich verantworten muss. Die unabhängigen Fachberater kennen sich aus auf ihrem Gebiet und können dir helfen, eine Strategie auszutüfteln. Die Profis kennen die Stolpersteine und auch die Knoten, die am meisten Kraft kosten. Die Lücken in unserer Rechtsprechung können Kinder sehr hart treffen. Sie können auch dir den Boden unter den Füßen wegziehen. Und das soll nicht sein!

25. Manchmal ist es für Kinder schwierig, ihre Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen. Ermuntere sie, sich anders auszudrücken. Der kreative Ausdruck von Kindern gibt Einblick in ihre Innenwelt. Auch wenn Kinder verstummen, vielleicht können sie etwas malen oder zeichnen.

Vielleicht klingt das für dich doch eher zu leicht, und trotzdem: Atme ab und zu durch. Vergiss dich selbst nicht. Tu dir etwas Gutes. Lächle einmal mehr. Es ist nachgewiesen, dass das direkt auf die Befindlichkeit wirkt. Und wenn es dir gut geht, dann kannst du auch für andere gut da sein.


Über die Autorin

Autorin Andrea Brummack

Andrea Brummack ist Sachverständige in Fragen sexueller Gewalt und freie Kinderschutzbeauftragte. Sie hilft Menschen, sexuelle Übergriffe zu bewältigen.

Ihr Buch „Way Out: Sichere Hilfe für missbrauchte Kinder. Was hilft und was heilt“ ist beim Springer-Verlag Berlin Heidelberg erschienen. Sie lebt mit ihrer Katze derzeit in einem Dorf bei Stuttgart, glaubt an die tägliche Portion Stille und liebt gut gemachte Krimis, in denen die Bösen ihr Fett ab kriegen. Ohne Glitzer.

„Meine Vision ist eine neue Generation von sozialen Fachkräften, die leicht mit sexuellem Missbrauch umgehen. Ich wünsche mir lebendige Beziehungen im Kinderschutz. Und ich verstehe, dass sozialpädagogische Fachkräfte ihre Arbeit lieben – auch wenn der Stress gewaltig ist. Weil da diese Kinder sind. Diese kleinen, unverfälschten Menschen.“