Sexuelle Gewalt gegen Kinder: Mein Erste-Hilfe-Ratgeber

20 Tipps für Menschen, die für Kinder und Jugendliche verantwortlich sind

Ein Kind vertraut sich dir an. Du bist plötzlich in einer neuen Lage. Du fragst dich: Wie kann ich für ein Kind da sein, das sexuelle Gewalt erlebt hat? Was ist jetzt das Richtige?

1. Reagiere ruhig und überlegt – die Ruhe in Person. Heftige Reaktionen belasten Kinder und lassen sie meistens verstummen.

2. Schütze ein Kind, das sexuelle Gewalt erlebt hat, vor jedem Kontakt mit dem Täter. 

3. Höre zu. Aufmerksam und geduldig. 

4. Umsorge und pflege das verletzte Kind. Schenke ihm Trost.

5. Anerkenne den Mut und die Kraft, die es kostet, Hilfe zu holen.

6. Stelle nur offene Fragen über den Ablauf. In einem ruhigen Tonfall. („Und was ist dann passiert?“ „Was hat er oder sie dann gemacht?“) Gib keine Details vor.

7. Akzeptiere es, wenn ein Kind nicht weitersprechen will. Lass bohrende Fragen nach Einzelheiten einfach weg. 

8. Lass alle Vorwürfe beiseite, auch wenn das Kind oder der Jugendliche sich dir erst spät anvertraut. Es ist eine große Sache, das Schweigen zu brechen und sich jemandem zu öffnen. Eventuell ist ein Kind im inneren Konflikt. Jemand hat ihm weisgemacht, dass es über ein Geheimnis schweigen muss. Aber es gibt “gute” und “schlechte” Geheimnisse.   

9. Stelle sachlich fest, dass die Taten unrecht, gemein, grausam, krass oder schmerzhaft waren – in deinen Worten.

10. Nimm die Aussagen des Kindes als wahr an – auch dann, wenn sie dir unlogisch vorkommen. Dieses Vertrauen stärkt dein Kind. Denn es braucht dich neutral und auf seiner Seite. 

11. Geh davon aus, dass das Kind oder der Jugendliche alles richtig gemacht hat. Das ist meistens der Fall.

12. Versprich nur, was du halten kannst.

13. Vertraue auf deine Intuition, auf dein Bauchgefühl – die innere Stimme.

14. Die Verantwortung für sexuelle Gewalt trägt der Täter, niemand anders. Das kannst du in geeigneten Momenten aussprechen – einfach so.

15. Nimm Abstand vom Wunsch nach drastischen Strafen. Sonst können Kinder und Jugendliche dir nicht weiter vertrauen. Das Thema Strafe ist für das Kind erst viel später dran. Es ist meistens besser, wenn Kinder frei sind von der Frage, ob jemand ins Gefängnis kommt – und auch davon, ob ein Täter verraten, bedroht oder verletzt wird.

16. Geh davon aus, dass du Boden unter den Füßen verloren hast. Auch dann, wenn du es nicht spürst. Es ist gut möglich, dass du dich seltsam oder unwirklich fühlst. Als wärst du in einem Noch-nicht, einem nebeligen Raum. Das ist jetzt normal. 

17. Mach dich darauf gefasst, dass du deine ganze, erwachsene Eltern-Kraft brauchen wirst. Du wirst vermutlich an deine Reserven gehen.

18. Errichte geduldig ein Fundament der inneren Stärke – mit allem, was dir gut tut. Tanke auf: Vitalität, Kreativität und ein sicheres Gefühl für innere Ruhe und Gleichgewicht.

19. Du kannst jederzeit Fachleute fragen und dich an Vorbildern orientieren. 

20. Schließe dich mit Menschen zusammen, denen du vertraust. Je mehr Rückhalt du hast, desto leichter ist es, für ein Kind da zu sein.

First-calm-down-and-put-the-helpdress-on klingt für dich vielleicht doch eher zu leicht, es mag sogar fast wie Hohn klingen. Wie soll ich denn jetzt Ruhe bewahren? Wir müssen doch was unternehmen!

Aber:

Handeln ohne vorher nachzudenken ist wenig ratsam. Es kann sogar gefährlich werden. Du bist eher in der Lage, die Gesamtsituation zu erfassen, wenn du Ruhe bewahrst. So behältst du wertvolle Energie für das übrig, was wirklich wichtig ist. Die Ruhe ist eine Kraft-Quelle für dich, wenn du dich den Schattenseiten zuwenden willst.

Über die Autorin

Autorin Andrea Brummack

Andrea Brummack ist Sachverständige in Fragen sexueller Gewalt und freie Kinderschutzbeauftragte. Sie hilft Menschen, sexuelle Übergriffe zu bewältigen.

Ihr Buch „Way Out: Sichere Hilfe für missbrauchte Kinder. Was hilft und was heilt.“ ist beim Springer-Verlag Berlin Heidelberg erschienen. Sie lebt mit ihrer Katze derzeit in einem Dorf bei Stuttgart, glaubt an die tägliche Portion Stille und liebt gut gemachte Krimis, in denen die Bösen ihr Fett ab kriegen. Ohne Glitzer.

„Meine Vision ist eine neue Generation von sozialen Fachkräften, die leicht mit sexuellem Missbrauch umgehen. Ich wünsche mir lebendige Beziehungen im Kinderschutz. Und ich verstehe, dass sozialpädagogische Fachkräfte ihre Arbeit lieben – auch wenn der Stress gewaltig ist. Weil da diese Kinder sind. Diese kleinen, unverfälschten Menschen.“