Warum Gutachten in Missbrauchsverfahren mehr schaden als helfen

Das verflixte alte Denken im Kinderschutz

Gutachten in Missbrauchsverfahren: Wenn ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch im Raum steht, dann gibt es ein bestimmtes Verfahren, mit dem die Verantwortlichen dem nachgehen. Wird der Verdacht bekräftigt – durch das, was ein Kind sagt – dann herrschen Sorgen, Druck und Angst. Niemand fasst gern ein heißes Eisen an.

Die einzigen Zeugen sind in der Regel das Kind und der Täter (oder die Täter).

Wie steht die Aussage eines überforderten Kindes zur geplanten, gut vorbereiteten Tat eines gewieften Straftäters? Und wie zu seiner Aussage? Kinder haben weniger (sprachliche) Möglichkeiten. Unter Umständen ist der Erwachsene mit allen Wassern gewaschen. Er hat Helfer. Er ist ein erfahrener Lügner – und auch sonst im Vorteil. Außerdem hat er viel zu verlieren. Er kämpft mit allen Mitteln gegen die Glaubwürdigkeit des Kindes. 

Das ist nicht schwer. Ein sexuelles Trauma hat Folgen – die dem Verstand von ungeschulten Erwachsenen seltsam und fast ein bisschen „verrückt“ erscheinen.

Im Strafverfahren holt der Richter in der Regel ein Gutachten ein, das die Glaubwürdigkeit des Kindes bewertet. Woher soll der Richter sonst wissen, ob er seine kleinen Zeugen für voll nehmen kann?

Das scheint also vernünftig.

Aber es ist ein Grauen für Kinder, die sexuelle Gewalt erlebt haben.

Viele Gutachter wissen immer noch zu wenig über Dissoziation und andere Traumafolgen. Sie beurteilen ein Kind nach logischen Gesichtspunkten – dabei unterbricht ein Trauma genau die logische Abfolge von Ursache und Wirkung, von Zeitachsen u.s.w.

  • Kinder leiden bei der Aussage
  • Sie sind paralysiert und erstarren
  • Die Nähe zum Täter schadet ihnen
  • Sie haben Angst oder geraten in Panik
  • Sie stottern, verhaspeln sich, sprechen unzusammenhängend oder gar nicht

Es ist eine Fehlannahme, dass ein Kind, das als unglaubwürdig begutachtet wird, nicht misshandelt wurde.

Das Gutachten sagt nichts über den Straftatbestand

Oft wird das Strafverfahren niedergelegt – es geht unentschieden aus, weil nichts bewiesen werden kann. 

Wenn der Täter der Vater ist müssen seine Kinder dann trotzdem Umgang mit ihm haben. Er holt sie zum Wochenende ab.

Sein Interesse an ihnen hört ja nicht auf. Es kann sein, dass ihm der Umgang – wie bei normalen Scheidungen – unbegleitet und auch über Nacht, über ganze Wochenenden und über die Ferien, zugesprochen wird. Die Mutter ist verpflichtet, das zu gewährleisten. Die Kinder besuchen dann regelmäßig einen Mann, von dem sie abhängig sind, der sie gequält hat – und vielleicht weiter quält. 

Mir hat es die Schuhe ausgezogen, als ich das erste Mal miterlebt habe, wie wenig das psychologische Gutachten in einer Gerichtsverhandlung den Kindern aus der Not geholfen hat. Das Gegenteil war der Fall. Es war falsch, dass die Kinder danach ungeschützten Kontakt zu dem Mann hatten, der ein Gewaltverbrechen an ihnen begangen hatte. Auch wenn auf dem Papier stand, dass das nicht bewiesen war.

Meine Meinung: Das Beurteilen von Kindern nach rein kognitiven Maßstäben ist überholt, und es sollte aufhören


Über die Autorin

Autorin Andrea Brummack

Andrea Brummack ist Kunst- und Tonfeldtherapeutin, freie Sachverständige in Fragen sexueller Gewalt und Kinderschutzbeauftragte. Sie hilft Menschen, sexuelle Übergriffe zu bewältigen.

Ihr Buch „Way Out: Sichere Hilfe für missbrauchte Kinder. Was hilft und was heilt“ ist beim Springer-Verlag Berlin Heidelberg erschienen. Sie lebt mit ihrer Katze derzeit in einem Dorf bei Stuttgart, glaubt an die tägliche Portion Stille und liebt gut gemachte Krimis, in denen die Bösen ihr Fett ab kriegen. Ohne Glitzer.

„Meine Vision ist eine neue Generation von sozialen Fachkräften, die leicht mit sexuellem Missbrauch umgehen. Ich wünsche mir lebendige Beziehungen im Kinderschutz. Und ich verstehe, dass sozialpädagogische Fachkräfte ihre Arbeit lieben – auch wenn der Stress gewaltig ist. Weil da diese Kinder sind. Diese kleinen, unverfälschten Menschen.“