Traurigkeit im Kinderschutz

Traurigkeit im Kinderschutz kann ein Ausgleich zu dem sein, was uns mitnimmt und belastet, was uns irritiert oder verstört in der sozialen Arbeit.

Wer täglich miterlebt, wie die Gesundheit von Kindern, ihre Perspektiven, Lebendigkeit, Schulfähigkeit … auf dem Spiel stehen, für den ist ein Teil des Tages seelische Arbeit. Du verlierst dich in kleinen Stücken, und du setzt dich wieder zusammen. Nicht nur deine Kinder.

Im besten Fall zeigt sich der Verlauf im Rückblick, in einem Abschlussgespräch, nach dem Verarbeiten erlebter Gewalt, als eine Transformation mit gutem Ausgang. „Am Anfang hatte ich Angst, und ich war traurig, ich hatte Angst im Dunkeln, hab mich alleine gefühlt. Natürlich habe ich mitgekriegt, dass Mama und Papa sich streiten. Wir sind mit Mama einfach weggefahren. Ich wusste nicht, wohin. Ich wollte wieder heim. Dass es gar nicht wahr ist, dass wir weg müssen. Ich habe viel geweint. Aber im Frauenhaus ist es gut. Mit meiner Mama.“

Dieser Neuanfang ist gut gegangen. Morddrohungen, Schläge, Erniedrigung, Ungewissheit und traumatische Erlebnisse haben ein Ende. Für mich sind die Gefühle, die wir als soziale Fachkräfte miterleben und auch tragen, manchmal so selbstverständlich, da war es toll, an den Bildern aus diesem Gespräch teilzuhaben, die eine Kollegin mir nachher gezeigt hat.

Traurigkeit im Kinderschutz

Und ich habe mir noch einmal vergegenwärtigt, dass Gefühle in meinem Setting durchlebt werden.
Dass Tonfeldtherapie in einer ihrer Dimensionen emotionale Bewältigung ist.

Traurigkeit im Relief, Ausdruck im Tonfeldsetting

Ich mache mir Gedanken zu der Frage, was ich als Gegengewicht zu der Schwere und der Finsternis habe,
die mir in der Arbeit begegnen.

Traurigkeit im Bild

Kinderschutz

Denn Kinderschutz heißt zwar „Schutz von Kindern und Jugendlichen vor körperlicher und geistiger Gewalt, vor Schadenzufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs durch geeignete Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen“, so die Baden-Württembergische Landesregierung. Und dennoch bedeutet es nämlich – auch wenn es da nicht steht – dass viele viele Kinder und Jugendliche Gewalt erleben und keineswegs gut geschützt durch’s Leben gehen. Sie werden groß mit Schmerz und Leid, und sie haben kein normales Leben wie ihre Freunde und Kameraden, die gewaltfrei aufwachsen. Zudem verbergen sie ihren Kummer vor anderen oft noch – es sind eben nicht selten geheime Lasten.

Das ist ein Schmerz, der meinen Kindern wirklich unterm Kittel brennt. Will ein traumatisiertes Kind einen Laptop im Schulunterricht, damit es den digitalen Anforderungen gerecht wird? Will es deutsche Sätze korrekt schreiben und lesen, oder Schablonen dringend so ausmalen, dass es nicht über den Rand malt? Nein, die Gewalt soll aufhören! Auch dann, und besonders dann, wenn sie von nahen Verwandten ausgeht, die mit ihrem Kind machen können, was sie wollen, wenn sie mit ihm allein sind.

Traurigkeit im Kinderschutz

Traurigkeit

Jetzt in den Sommerferien hat die ruhige Zeit begonnen. Keine Kinder, keine Präsenztermine – da holen mich auch schon die Gespenster ein, die in den letzten 6 Wochen nur darauf gewartet haben. Ich hole Traurigkeit nach. Sie kommt einfach. Und weil ich gerade viel über den Ausgleich zu Schwere im Kinderschutz nachdenke, gebe ich dem Thema Traurigkeit einen eigenen Artikel. (Was heißt das, wie mache ich das, und ist das jetzt gut oder schlecht?)

In einem Buch von 2007 über die Philosophie der Gefühle lese ich: „Traurigkeit ist eine Reaktion auf einen Anlass, auf ein Ereignis wie einen Verlust. Sie ist wichtig für den Verarbeitungsprozess.“

„Traurigkeit ist auf eigenes Unglück bezogen“, geht es weiter. Klar. Das stimmt, so kenne ich’s auch. Oder sie kommt über dich, weil die allgemeine Weltlage einen traurig stimmen kann, weil das Leben traurig ist, oder weil Zustände ausweglos erscheinen.

Traurigkeit, ein Fenster

Darum gehört Traurigkeit in den Kinderschutz: weil wir soziale Wesen sind und Anteil nehmen an anderen. Darum erleiden wir ja auch eine sekundäre Traumatisierung, wenn wir von sexueller Gewalt erfahren. Sie belastet, sie überlastet.

Wenn du dich aus dieser Starre unter deiner Haut lösen willst, dann ist Rausgehen eine gute Idee. So verstehe ich Traurigkeit: ein Fenster in Richtung „neu“ und „raus“. Da führt sie uns hin.

Traurigkeit im Kinderschutz

Ich will sagen: nach dem Selbstverlust kommt wieder Selbstgewinn – und Lösungen.
Wenn wir das aber einfach so beiläufig, ohne Hilfe oder Unterstützung, von uns erwarten, finde ich’s unmenschlich.

Kinderschutz in Kinderhand

Professionelle Traurigkeit ist sozusagen keine Stimmung, sie ist eine Folge, ein Trost-Verlauf, den du mit anderen zusammen besitzt. Wie einen Schatz, den man teilt.

Traurige Stimmung mit einer Zimmerpflanze im Raum

Sekundäre Traumatisierung

Wenn du aus dem traumatischen Schock, der Erschöpfung oder Ohnmacht heraus willst, wirst du etwas bewegen müssen. Wie kommst du sonst raus als durch ein Fenster oder eine Tür?

Das ist Traurigkeit: ein Ausgang, eine Tür in Richtung „anders“. Weil Menschen weinen, um mit Gefühlen klar zu kommen, um aus der Starre ins Lösen zu gehen.

Da holt die Traurigkeit uns ab. Man muss nicht weinen oder schreien, damit Trauern funktioniert – obwohl Tränen und Schluchzer sehr gute Spannungslöser sind.

So wie ich’s im SOS-Kinderdorf in Sulzburg gelernt habe, in meiner ersten Tätigkeit im sozialen Bereich. Ich war unheimlich gerne dort gewesen – mit und ohne traumatische Lasten – sodass ich danach unbedingt jede Gelegenheit zum Besuch bei meiner Ex-Kollegin, der Kinderdorfmutter, nutzen wollte.

Das war dann so: nach einem langen Tag beschützender, dringender, autoritärer, chaotischer, widersprüchlicher und auch nervtötender Beziehungen gab es den Moment, in dem die Kinder im Bett waren und wir hatten Zeit für Traurigkeit. 

Wir hatten Schnulli-Filme mit Rosamunde-Pilcher-Stories. Wir saßen auf dem Sofa, schauten erleichtert auf den Bildschirm, durchlebten in den Fernseh-Dramen die großen Gefühle der Held*innen, holten das Happy End ab, für uns persönlich, für’s Auftanken und für die seelische Hygiene. 

Freundschaft und Fürsorge unter Lebewesen

Sich selbst gewinnen

Ich will’s nochmal sagen: nach dem Selbstverlust kommt wieder Selbstgewinn – und Lösungen.

Professionelle Traurigkeit ist eine bewusste Traurigkeit, die du zusammen mit Kolleg*innen – mit sozialen Profis – erlebst und durchschreitest. Sie hat für mich einen hohen Stellenwert.

Ein Ausgleich zu der Schwere im Kinderschutz ist Traurigkeit

Darum könnten wir das Thema auch einmal mit in einen Zoom-Call hineinnehmen. Die Möglichkeit, uns im Community-Kurs auszutauschen, ist jedenfalls offen. 

Wenn dich das interessiert:
Wir sind wenige, und manchmal nur ich. 
Es ist ein günstiges Abo, das du auch für nur einen Monat buchen kannst.
Du kommst leicht rein, und auch leicht wieder raus.

Frag gerne nach, ob es schon einen Termin gibt und wie viele dabei sind.


Über die Autorin

Autorin Andrea Brummack

Andrea Brummack ist Sachverständige in Fragen sexueller Gewalt und freie Kinderschutzbeauftragte. Sie hilft Menschen beim Bewältigen und Erkennen von sexuellem Missbrauch, sich von Gewalt zu erholen, die Folgen zu lindern oder abzustreifen, einen Verdacht zu klären, Gefährdungen einzuschätzen und im Kinderschutz insgesamt weniger Druck zu erleben.

Ihr Buch „Way Out: Sichere Hilfe für missbrauchte Kinder. Was hilft und was heilt.“ ist beim Springer-Verlag Berlin Heidelberg erschienen. Sie lebt mit ihrer Katze derzeit in einem Dorf bei Stuttgart, glaubt an die tägliche Portion Stille und liebt gut gemachte Krimis, in denen die Bösen ihr Fett ab kriegen. Ohne Glitzer.

„Meine Vision ist eine neue Generation von sozialen Fachkräften, die leicht mit sexuellem Missbrauch umgehen. Ich wünsche mir lebendige Beziehungen im Kinderschutz. Und ich verstehe, dass sozialpädagogische Fachkräfte ihre Arbeit lieben – auch wenn der Stress gewaltig ist. Weil da diese Kinder sind. Diese kleinen, unverfälschten Menschen.“